Die Initiative für einen selektionsfreien Übertritt in die Sekundarstufe I greift ein wichtiges Anliegen der SP zur Förderung von Chancengleichheit auf. Bereits im Jahr 2008 formulierte die SP Schweiz in ihren Bildungsthesen unter dem Titel „Chancengleichheit und Motivation anstatt Selektion“ das Ziel eines Schulsystems ohne Leistungsselektion bis zum Ende der Schulpflicht. Dementsprechend beschloss die SP an ihrem Parteitag in Bern im August 2024, die Initiative zu unterstützen.

Die Gliederung der Schüler:innen in Leistungszüge auf der Sekundarstufe I ist in der Schweiz gängige Praxis, obwohl bereits 1995 die Pädagogische Kommission der EDK festgestellt hat, dass Leistungsüberschneidungen zwischen den niedrigsten und höchsten Niveaus unvermeidlich sind. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist die Bilanz ernüchternd: Es gibt keinen einzigen Beleg für eine positive Wirkung der Selektion. Auch die häufig geäusserte Befürchtung, dass leistungsstarke Kinder ausgebremst werden, ist unbegründet. Die negativen Folgen hingegen sind bestens dokumentiert. Insbesondere Kinder mit Grundansprüchen leiden unter einer schlechteren Leistungsentwicklung, Stigmatisierung und begrenzten Laufbahnmöglichkeiten – um nur die gravierendsten Auswirkungen zu nennen. Darüber hinaus führt die Selektion zu sozialer Segregation, erzeugt bei den Kindern unnötigen Stress und verschwendet wertvolle Bildungsressourcen.
Die vielbeschworene Durchlässigkeit zwischen den Leistungszügen ist leider grösstenteils Theorie. In der Praxis bleibt die grosse Mehrheit der Schüler:innen in dem Niveau, dem sie zugeteilt wurden. Zwar gibt es einzelne Jugendliche, die dank der Durchlässigkeit aufsteigen können – meist durch die Unterstützung engagierter Lehrpersonen, des familiären Umfelds oder durch enorme eigene Anstrengungen. Doch solche Fälle sind eher die Ausnahme als die Regel.
Dass es anders geht, zeigen innovative Schulmodelle wie die Mosaik-Sekundarschulen mit niveau- und jahrgangsgemischten Klassen. Ebenso gibt es Schulen, die in niveaudurchmischten Klassen unterrichten oder zumindest niveaudurchmischte Stammklassen führen. Im Kanton Bern unterrichten bereits 40 % der Schulen auf der Sekundarstufe I in gemischten oder mehrheitlich gemischten Klassen mit denselben Ressourcen und Lehrplänen wie Schulen, die in separierten Modellen arbeiten. Auch wenn diese innovativen Schulmodelle einige der negativen Auswirkungen der Selektion mindern, bleibt der „Stempel“ „Schüler:in mit Grundansprüchen“ bestehen – und mit ihm die bekannten Nachteile. Gleichzeitig zeigen sie eindrücklich, dass die Abschaffung der Selektion heute ohne tiefgreifende Reformen oder umfassende Systemänderungen möglich ist.
Die Initiative für einen selektionsfreien Übertritt in die Sekundarstufe I ist ein zentraler Schritt hin zu einer chancengerechteren Volksschule. Ich habe die negativen Auswirkungen der Selektion bei meinen Kindern hautnah erlebt. Umso mehr freut es mich, dass die SP diese Initiative unterstützt.
Hanspeter Stalder